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Studentenproteste

veröffentlicht von V. Ammer am 18.11.2009
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Sind die Studentenproteste ein ungerechtfertigtes Gemecker verwöhnter Studenten?

Ein Standpunkt von V. Ammer


Immer wieder höre und lese ich Stimmen zu den aktuellen Studentenprotesten wie in einem Leserbrief in der Lippischen Landeszeitung am 14. November. Die Leserin schrieb unter dem Titel „Entbehrungsreich und unbequem“, sie habe nach Aufnahme ihres Studiums 1966 jedes Semester 240 Mark Studengebühr zahlen müssen. Das sei damals viel Geld gewesen, aber sie habe jede sich bietende Gelegenheit zum Geldverdienen genutzt, um ihren Vater von den Kosten des Studiums zu entlasten. So wie diese Leserin denken viele Menschen. Was sind schon 500 € Studiengebühren pro Semester? Daran kann doch ein Studium nicht scheitern. Aber sind die Verhältnisse wirklich vergleichbar?

In den Sechziger Jahren waren studentische Hilfskräfte auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt und wurden gut bezahlt. Heute konkurrieren sie mit Zeitarbeitern, Ein-Euro-Jobbern und anderen Menschen, die für einen Billiglohn arbeiten. Zudem lassen die neuen Turbo-Bachelor-Studiengänge wenig Zeit für Nebenverdienstmöglichkeiten auf einem Arbeitsmarkt, der zudem keine Rücksichten auf Vorlesungszeiten nimmt.

Unberücksichtigt bleiben in diesen Vergleichen meist auch die weiteren Kosten wie Semestergebühren, Miete und Energiekosten.

Wie sieht es zudem mit den Studenten aus, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind (sprich BAföG). Das Anfang der siebziger Jahren eingeführte BAföG wurde bedürftigen Studenden zunächst als Vollzuschuss gezahlt (es musste also gar nichts zurückgezahlt werden!). Dies wurde aber im Laufe der Jahre verändert, bis BAföG in den achziger Jahren von der CDU-FDP-Regierung auf Volldarlehen umgestellt wurde.

Wer also nicht das Glück hat, dass ihm seine Eltern das Studium bezahlen können, startet heute mit nicht unerheblichen Schulden in das Berufsleben: BAföG und Studiengebührenkredit müssen erst einmal zurückgezahlt werden. Und das in einer Lebensphase, in der man eher an Familiengründung als an Schuldenabbau denken sollte.

Man spricht heute aus gutem Grund von der „Generation Praktikum“. Statt einer Festanstellung wartet auf viele Studienabgänger eine Odyssee von diversen unterbezahlten Prakikumsstellen. Und auch eine Festanstellung bedeutet in der heutigen Zeit keine Sicherheit mehr.

In den sechziger Jahren haben letztlich Studentenproteste zur Abschaffung von Studiengebühren geführt. Die Asta Oldenburg schreibt in einem Beitrag aus dem Jahr 2003 zur Geschichte der Studiengebühren:

„Zu Zeiten der ersten Universitätsgründungen in Europa waren die neu entstandenen Hochschulen ausnahmslos Bildungseinrichtungen für die Elite und die Herrschenden. [...] Damals gab es das so genannte Hörgeld [...] und [das] bis zu 300 DM betrug. Das Hörgeld war im Prinzip nichts anderes als Studiengebühren.
Der liberale Zeitgeist der 1960er Jahre brachte die Bundesregierung dazu eine große Universitäts- und Bildungsreform auf den Weg zu bringen. Die Universitäten sollten für breitere Bevölkerungsschichten geöffnet werden – der Antrieb hierzu war damals allerdings keineswegs ein humanistisches Bildungsideal, sondern vielmehr verlangte die Wirtschaft nach mehr und besser ausgebildeten Akademikerinnen.
Die aufkommende Studierendenbewegung Mitte der 1960er Jahre, mit ihrer teilweise radikalen Gesellschaftskritik, betrachtete das Hörgeld als nicht hinnehmbare soziale Hürde, die Menschen aus sozial benachteiligten Schichten den Zutritt zu den Universitäten erschwerte bis verhinderte. So kam es zu massiven Protesten gegen das Hörgeld: In Hamburg gelang es 1970 einen Boykott der Studiengebühren zu organisieren, an dem sich sehr viele Studierende beteiligten. Als Folge beantragte der Hamburger Senat in der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder erfolgreich die Abschaffung von Studiengebühren. Der Weg zur Massen-Uni war somit geebnet, fortan war das Studium an Hochschulen in der Bundesrepublik gebührenfrei.“

(Quelle: http://www.asta-oldenburg.de/themen/studiengebuehrengeschichte)

Die damaligen positiven Veränderungen führten in direkter Folge deutlich ansteigenden Studentenzahlen und damit auch zu deutlich mehr hochqualifizierten Studienabgängern.

Genau das brauche aber auch heute die deutsche Wirtschaft, nämlich mehr hochqualifizierte Berufsstarter, heißt es immer wieder. Deutschland solle durch die verkürzte Studienzeit wieder international wettbewerbsfähig werden. Gleichzeitig solle einem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Doch wie sieht die Realtität aus? Das Gegenteil zeichnet sich immer deutlicher ab. Doch was meint der Begriff „Wirtschaft“ ist in diesem Zusammenhang? Er kann sowohl privatwirtschaftlich kapitalistisch also auch volkswirtschaftlich sozialistisch verstanden werden. Aus meiner Sicht darf privatwirtschaftliche Verwertbarkeit nicht der Maßstab für die Qualität von Bildung sein. Den gesellschaftlichen Profit von Bildung kann man nicht an Konzerngewinnen messen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, das Bildung einen Wert an sich hat. Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft von einem freien Bildungszugang aller Gesellschaftsgruppen letztendlich auch wirtschaftlich profitierte. Die von der FDP auf die Agenda gesetzte Elitenförderung wird dagegen vor allem die Studenten unterstützen, die sowieso bereits finanziell abgesichert sind und bestehende soziale Unterschiede weiter verstärken.

Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der Linken im Thüringer Landtag zum Thema Bildung:
„Bildung […] ist und bleibt die wichtigste Ressource, die unsere Gesellschaft hat. Der chancengleiche und gerechte Zugang zu lebensbegleitender Bildung verlangt grundlegende Veränderungen. Zunächst benötigen wir ein neues Grundverständnis von Bildung. Es ist ein Bildungsbegriff notwendig, der nicht die Ware-Geld-Beziehungen als Grundbasis sanktioniert. Er muss auf ein humanistisches Menschenbild gerichtet sein.“
(http://www.bodo-ramelow.de/arbeit/elemente_totaler_herrschaft_und_barbarei_gefahren_fr_demokratie_und_mensche/)

Die Linke (Bundespartei) schreibt in einer Presseerklärung vom 18. November 2009:
„Deutschland ist Weltmeister bei der sozialen Auslese in der Bildung. Schon früh wird getrennt und gesiebt. Kinder aus ärmeren Familien sowie mit Migrationshintergrund werden systematisch Chancen genommen. Mit Studiengebühren wird der Zugang zu Hochschulen weiter erschwert.“
(Quelle: http://die-linke.de/nc/presse/presseerklaerungen/detail/zurueck/presserklaerungen/artikel/protest-gegen-bildungsmisere-dringend-noetig/)

Ich meine, es wird höchste Zeit für eine grundlegendes Umdenken bei der Bildungspolitik. Bildungsinvestitionen sind Zukunftsinvestitionen der gesamten Gesellschaft und sichern den Wohlstand und die Renten von morgen.

Der DGB beispielsweise fordert aus gutem Grund:
„[...] Bund und Ländern müssen:
die chronische Unterfinanzierung unseres öffentlichen Bildungssystems beenden.
Die von der schwarz-gelben Regierung geplanten Bildungskonten privatisieren die Kosten – und sind der falsche Weg. Wir brauchen mehr Investitionen für ein besseres öffentliches Bildungswesen: für mehr Ganztagsschulen und bessere Kindertagesstätten, für eine bessere Finanzierung der Hochschulen und den Ausbau des BAföGs, für eine bessere Weiterbildung. Für die Umsetzung dieser Forderungen hat der DGB ein Milliarden-Paket vorgeschlagen.
mehr Zeit für gute Bildung geben. Die verkürzte Schulzeit (G8), der sechssemestrige Bachelor und zweijährige Berufsausbildungen sind die bekanntesten Auswüchse einer Bildungspolitik unter dem Spar-Diktat. Andere Staaten lassen mehr Zeit für Bildung. Wir brauchen keine Fast-Food-Bildung. Wir wollen keinen McHumboldt!
die Bildungsgebühren abschaffen. Bildung darf nicht als Dienstleistung verstanden werden, die nur in Anspruch nimmt, wer es sich leisten kann. Der DGB fordert die Abschaffung aller Bildungsgebühren vom Kindergarten bis zur Hochschule.“

(Quelle: http://bildungsklick.de/pm/70878/dgb-solidaritaetserklaerung-gemeinsam-fuer-ein-gutes-bildungssystem/)

(V.Ammer)

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